Backflip auf einem Okapi

Das Licht geht aus.

Die Hand tastet nach dem Schalter. Zum Lesen ist sie wirklich schon zu müde. Die Buchstaben verschwimmen vor den Augen. Die Lider sind bleiern, das Hirn durchzogen von Spinnfäden. Noch kurz in fremden Gedanken versinken. Das Buch vom Nachttisch nehmen. Das kühle Leinen der Decke umschmiegt ihren Körper. Sie lässt sich fallen, in die weichen Kissen. Endlich zur Ruhe kommen. Den abendlichen Blick aus dem Fenster genießen. Ein Mann versucht, seinen Hund zum Weitergehen zu bewegen und zieht an der Leine – der Hund hält dagegen. In den Augen des karamellfarbenen Hundes widerständige Entschlossenheit. Geigenklänge von gegenüber. Sie öffnet das Fenster. Umspült zu werden mit blauem Gleichmut tut jetzt gut. Die Tropfen auf dem Glas der Scheibe bilden ein wildes Geflecht aus Wegen und Straßen. Das Wasser wäscht sie ab, die Verwirrung, die Zweifel des Tages. Unter der sanften Brause der Dusche stehen. Einatmen, ausatmen. Ankommen. Die Schuhe von den Füßen streifen. Wieder zuhause. Sie sperrt die Haustür auf. Von irgendwoher weht ein blumiger Duft, ein Hauch von Flieder – aber Flieder blüht doch nicht mehr. Sie schüttelt den Kopf und geht weiter. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so frech anspreche, aber meine Mutter hat mich rausgeworfen, weil ich schwanger bin. Nun brauche ich Geld.“ Die wasserblauen Augen des Mädchens flackern unruhig hin und her. Sie bleibt stehen. Die Ampel schaltet von Grün auf Rot. Sie geht weiter. Ein bisschen zu Fuß laufen wird helfen, abzuschalten. Heraustreten aus dem Zwielicht. Die Stufen erklimmen. Es zischt beim Öffnen der Türen. Sachte wird sie hin und hergeschaukelt. Die U-Bahn wiegt die Gedanken im dumpfen Dämmer. „Tschüss, bis morgen.“ Abschied. Miteinander lachen. Miteinander reden. Miteinander laufen. Die Lesung war wohltuend. Eintauchen in Bilder von Traumsequenzen. Eintauchen in Geschichten über Blumendiebinnen, über Gewässer und Sehnsüchte. Es sind viele Menschen da. Eine flirrende Atmosphäre. Die Tür aufmachen. Auf zum Veranstaltungsort. Eine stärkende Umarmung. Beim Brunnen sieht sie schon die Freundin warten. Sie setzt ihren Weg fort. Ohne Ziel kreisen, das wünscht sie sich. Sie hätte gern eine Runde gedreht – auf dem Karussell – doch es steht still. Sie stellt sich vor, wie sich das Okapi von der Stange losreißt, die es am Boden des Karussells fixiert und mit ihr auf dem Rücken davonstiebt. Sie spürt, wie ihr die Tränen über die Wangen fließen – das Okapi würde sie trocknen mit seiner langen, schwarzblauen Zunge. Sie blickt in die dunklen, sanften Augen des seltsamen Geschöpfes. Die großen Ohren des gestreiften Okapis gefallen ihr besonders gut. So viele außergewöhnliche Karusselltiere. Ein schillernder Fisch mit Schleierflosse. Ein rosarotes Seepferd. Ein brüllender Pavian. Das Karussell auf dem großen Platz zieht sie magisch an. Sie schlendert durch die Stadt. Den Kopf frei kriegen. Endlich ausbrechen aus der Enge des Raums. Sie kann nicht mehr länger hierbleiben. Seit Stunden schon sitzt sie in ihrem Zimmer. Sie muss jetzt hier raus. Die Maserung des schweren, honigbraunen Holzes kennt sie nun zur Genüge. Einen Elefantenkopf hat sie entdeckt auf der Schranktür – einen Elefantenkopf mit wehenden Ohren. Ein Kratzer zieht sich diagonal über die Tür. Sie starrt. Sie sitzt. Sie starrt. Sie sitzt auf dem Bett und starrt den Schrank auf der anderen Seite des Zimmers an. Sie nimmt sich ein Eis aus dem Fach ihrer Mitbewohnerin. Buttermilk Lemon. Der Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, gelingt nicht. Was soll sie jetzt machen? Ein weiteres Jahr sinnloses Warten. Ein weiteres Jahr unbefriedigende Jobs. Ein weiteres Jahr ohne neue Bekanntschaften, ohne neue Impulse. Sie lässt die Hand mit dem Brief darin sinken. Sie will nicht weiterlesen. „Wir freuen uns über Ihr Interesse an einem Studium an unserer Universität. Leider…“ Die fett gedruckte Überschrift mit dem Wort Ablehnungsbescheid brennt sich in ihre Netzhaut. Der lang ersehnte Brief von der Uni. Sie schaut aus dem Fenster und sieht den Briefträger – vielleicht war er schon bei ihrem Haus. Sie schwitzt. Die Hitze ist schon jetzt unerträglich. Ein Salat mit Tofu und Quinoa. Nur ein leichtes Mittagessen, mehr kann sie nicht essen, wenn es so warm ist. Wieder daheim unter eine erfrischende Dusche hüpfen. Ausatmen. Drei Schritte. Einatmen. Im immer gleichen Rhythmus. Laufen und Atmen. Loslaufen. Menschen mit Kopfhörern auf den Ohren tanzen auf dem Rasen. Eine Krähe schreitet majestätisch durch ein Blumenbeet. Geborgen unter goldgrünen Baumkronen. Sie setzt sich auf eine Bank im Park. Es soll ein heißer Sommertag werden. Der Himmel ist klar. Die Luft ist noch frisch. Hinaus in die morgendliche Kühle. Wachwerden. Erst mal eine Tasse Tee. Kein Lieferando heute. Ein freier Tag steht ihr bevor. Sie freut sich. Eine Freundin fragt, ob sie am Abend zu einer Lesung mitkommen möchte. Kurz die Nachrichten checken. Ankommen im Heute. Dehnen. Räkeln. Sie hört die Vögel im nahen Park singen. Noch kurz verharren in diesem Schweben zwischen Wachen und Träumen. Nur noch kurz liegen bleiben. Die Hand tastet nach dem Schalter.

Der Wecker klingelt.

Frontflip:

Der Wecker klingelt. Die Hand tastet nach dem Schalter. Nur noch kurz liegen bleiben. Noch kurz verharren in diesem Schweben zwischen Wachen und Träumen. Sie hört die Vögel im nahen Park singen. Räkeln. Dehnen. Ankommen im Heute …

Claudia Woitsch
Claudia Woitsch
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