Berstende Lindenblütenkapseln

Sicher hört man ihn schon von weitem. Mit einem unrunden Klackern holpert das verbliebene vordere Rad des Rollkoffers über das Pflaster. Begleitet wird das tatok…tatok…tatok von einem stetigen Schleifgeräusch. Seitdem die linke, vordere Rolle des Koffers abgebrochen ist, wird das Textil an dieser Stelle zunehmend aufgerieben. Bruno zerrt das kaputte, monströse Ding mit schlurfenden Schritten hinter sich her. Er ist schrecklich müde. Die Nacht im Hotel war zermürbend. Die halbe Nacht ist er wachgelegen und hat sich auf der viel zu weichen Matratze hin und her gewälzt. Das dagegen steinharte Kissen hat seinen Kopf in eine unbequeme Haltung gezwungen. Sein Nacken schmerzt. Eine ältere Frau kommt ihm entgegen. Sie führt einen sehr kleinen, lackschwarzen Pudel mit sich. Bruno muss an einen Traum der vergangenen Nacht denken. Meerschweinchen kamen darin vor. Neugeborene Meerschweinchen. Rosig. Nackt. Mit geschlossenen Augen lagen sie zusammengekuschelt in einem Nest aus Heu. Im Traum kroch ihm der Gedanke hinter die Stirn, dass Meerschweinchen doch eigentlich voll entwickelt zur Welt kommen. Ich muss das Bild korrigieren. Dieser Satz war plötzlich in seinem Kopf. Und dann waren die Meerferkel auf einmal behaart. Aber sie sahen nun alle irgendwie gleich aus. Ihr Fell war weiß und die Augen karmesinrot. Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art von ihnen abgestoßen. Beim Aufwachen der Geschmack von Bittermandel im Mund.

Eine weitere Nacht in diesem Hotel kommt nicht in Frage. Überhaupt ist er es leid, in Hotels und Airbnb-Unterkünften zu schlafen. Er braucht dringend eine neue Wohnung. Eine eigene Wohnung. Irgendwann ist er einfach gegangen. Hat die nötigsten Dinge zusammengepackt und die Tür der gemeinsamen Wohnung hinter sich geschlossen. Als er sie vor fünf Jahren kennengelernt hatte, war noch alles gut. Sie konnten miteinander reden, miteinander lachen. Ein starkes Band hielt sie zusammen. Aber dann jagte eine Krise die nächste. Und sie teilte ihm ihre Einschätzungen dazu mit. Sprach von Gesundheitsdiktatur und immer mal wieder von denen da oben. War der Meinung, dass man sich mit Putin an einen Tisch setzen könne   und regte sich darüber auf, dass sich junge Menschen aus Protest gegen die Klimapolitik auf die Straße kleben. Die Worte fielen ihr wie graubraune, zähflüssige Tropfen aus dem Mund und verkleisterten ihm Hirn und Herz. Das Band, das sie als Paar zusammenhielt, zerfaserte immer mehr. Dann – vor einigen Monaten – zum ersten Mal ein Anfall von Augenmigräne. Beim Joggen. Die Konturen der Häuser und Bäume wurden weich und waren überschrieben von irisierenden Zackenlinien. Lichtblitze zuckten auf, grellweiß. Und das Weltrauschen dröhnte plötzlich viel zu laut in seinen Ohren. Ab diesem Zeitpunkt war ihm klar, dass er etwas ändern musste in seinem Leben.

Als Bruno im Dämmerlicht mit seinem Gepäck aus dem Hausgang getreten war, stolperte er über einen herumliegenden E-Scooter. Die Rolle des Koffers splitterte dabei und brach am nächsten Tag schließlich ganz ab. Zwei Wochen ist das nun her.

Das Gewicht des Koffers zerrt an Brunos Arm. Er bleibt stehen und schüttelt die Hand aus. Er blickt nach oben. Am blauen Herbsthimmel aufgebauschtes Weißes, durchzogen mit dunkelgrauen Schlieren. Er steht zu Füßen eines Straßenbaumes. Es ist eine Linde. Als er den Blick auf den Boden heftet, sieht er, dass auf dem fleckigen Pflaster unzählige ihrer runden Früchte liegen. Kleine, grünlich-graufilzige Kapseln. Er lässt den nun aufrecht stehenden Rollkoffer langsam und sanft darüber rollen. Wieder und wieder. Er genießt das Geräusch, das dabei entsteht, wenn die zarten Kapselhüllen aufbrechen. Trocken. Knisternd. Dieser Klang lässt seine Kopfhaut kribbeln und rückt seine Gedanken zurecht. Er rinnt in seine Ohren und ergießt sich als warmer Schauer in seinen Kopf. Als er genug hat, steht er mit geschlossenen Augen eine Weile einfach nur da. Schließlich öffnet er sie wieder, schaut hinauf in das Äste-und-Blätter-Durcheinander und reibt sich den Nacken.

Claudia Woitsch
Claudia Woitsch
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