Wie tief reicht ein Anker? 200 Meter tief? 300 vielleicht?
Manche Fragen trösten, dachte er sich. Manche Fragen wären besser als ihre Antwort. Manche Fragen würden das Grelle aus den Angeln heben.
Unter seinem Geist gab es zu dem Zeitpunkt alles und nichts und so viel Wasser. Hart arbeitende Waden gab es, die schon brannten und das tat gut. Dann gab noch den Meeresgrund und viel, viel dazwischen. Er trat automatisch schneller, so als wäre das Gehen mitten im Pazifik verboten und jemand könnte ihn erwischen, – ein übergroßer Oktopus oder ein weißer Hai oder so. Er lief und lief über das Tiefe und sein Gesicht wurde nass, weil andere Passagiere, weit jünger als er und kräftiger, auch in die See, die weite, die ruhige, die beunruhigende, gesprungen waren und ihre Köpfe sich wie zerfranste Bowlingkugeln über der Wasserfläche hielten, ausgelassen spielten, spritzten und sich gegenseitig einen Ball zuwarfen.
Er legte den Kopf in den Nacken und ließ den Rest seines Körpers nach oben treiben, hielt dem Himmel seine Narbe hin und spähte hinauf ins Wolkenlose, suchte es ab nach irgendetwas, an dem sich seine Augen festhalten konnten und die ihn daran erinnerten, dass es trotz der Schwerelosigkeit noch ein Oben und Unten und ein Rechts und ein Links gab. Und weil es ein Oben und Unten und ein Rechts und ein Links gab, gab es unter dem Himmel auch ein Zurück. Im Zurück lag er auch schon oft auf dem Rücken. Lachend manchmal, weinend ein andermal.
In einem weitentfernten Zurück, da kümmerte er sich zum Beispiel nicht darum, wenn sich unter seinen damals so kleinen Fingernägeln der Schmutz des Vormittags gesammelte hatte. Wenn er dreckig war, so kurz vorm Kirchgang.
„Protzn1, deppate!“ rief er in diesem Zurück dann in seinen Himmel und blieb trotzdem weiter im Gras liegen in seinem neuen Unterhemd, unter ihm die ihn ungnädig stechenden Halme. Protzen – formten seine Lippen dann wortlos und überzogen in die Luft, – er hatte immer Angst, der Vater hört ihn fluchen. Er stand ihm nicht gern Rede und Antwort, dem Vater. Aber heimlich unheimlich sein wie der Vater, das wollt‘ er schon. Josef zerrieb im Zurück kleine Bröckchen Erde mit den Fingern und hob den Kopf. Er sah seine Mutter vor dem Hof stehen. Sie hatte den Sonntagsrock angezogen und eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen hielt sie den Eimer. Sie suchte die weiten Felder ab nach ihm, die weiten Felder, die so weit waren, dass von dort aus kein Auge ihr Ende abschätzen konnte. Die Mutter flimmerte ihm wie eine Täuschung durch die Hitze, sie sah ihn bestimmt nicht.
Mittagsmesse, fuhr es ihm seinerzeit durch den Kopf. Er ließ sich zurückfallen, nahm das letzte Bild noch mit ins Gras, das mit dem Hügel, der sich hinter seinem Hof erhob und aus dem wiederum der Hof vom Schlackner Hans wuchs, in dem der Herbert wohnte. Josef kämpfte sich aus der Rückenlage, stand auf und streifte und klopfte sich den Dreck von der kurzen Lederhose. So schmal war der Feldweg auf dem er jetzt zurück zur Mutter trabte, auf dem sie gleich fahren würden, sobald der Vater den Gustl vor den Karren gespannt hatte. Der war so schmal, der Weg im Zurück, dass selbst die kleinsten Grashüpfer in einem Hops rüberkamen.
Josef glitt im Wasser auf den Bauch, streckte ihn mutig den finsteren Meeresungeheuern entgegen und fragte sich, wie weit ihn ein Schwimmzug wohl ins Morgen bringt und wie er das messen könnte und verdichtete sich sein Universum wieder ein bisschen.
- umgangssprachlich für Hände ↩︎