Dass Regen nicht in Flocken kommt, müsste im Grunde genügen. Dabei sind es doch die Flocken, die etwas Böses in sich tragen, Milch, die im Kaffee ausflockt, Chemikalien im Swimmingpool, Schmutzpartikel, die sich an Flocken binden, Schneebällen gleichend größer werden, erst aus-, dann ver-, dann zuflocken, es sind die Flocken, nicht die Tropfen, die viel neutraleren, die uns bedrohlich erscheinen müssten. Warum ekeln wir uns nicht vor Schnee, warum zieren wir uns nicht wie verwöhnte Katzen davor, in ihn einzutauchen, warum wird Laktoseintoleranten nicht schwindlig beim Anblick schlagobersbedeckter Hügel? Warum genügt schon das geradlinige Flockenfallen, eben noch Regen gewesen, gerade erst die Verwandlung vollzogen, um mich in Ruhe zu versetzen, etwas in mir zu bedecken, einen feinen Film auf etwas Unbestimmtem mir Innerem zu bilden, der mich weicher, kantenloser, meiner gedämpften Schritte würdiger werden lässt? Warum ist die plötzliche Nässe auf meiner Stirn kein Ärgernis, nichts, das sofort weggewischt wird mit einer automatisierten Bewegung der linken Hand? Warum trete ich vor die Tür, anstatt drinnen zu bleiben, warum käme mir nicht in den Sinn, einen Schirm aufzuspannen, warum reibe ich das feucht gewordene Haar mit Genugtuung vor dem Spiegel trocken?
Warum verzeihe ich dem Schnee, was ich dem Regen übelnehmen würde?
Der Schnee, der heimgekehrte verlorene Sohn, auf dem vergilbten Foto neben ihm die treue, unscheinbare, nasssträhnige Tochter.
Der Schnee, den ich mit der Ehrfurcht der gealterten Mutter für den zukünftigen Versorger verehre, als trügerischen Hoffnungsträger, als den, der Jahr für Jahr doch noch kommt, doch noch den Beweis erbringt, dass manches seine Gültigkeit behalten hat bis jetzt.
Vielleicht wird mir irgendwann der Regen Ähnliches bedeuten, werden wir irgendwann wie heute Tourist*innen aus Saudiarabien in den Regen fahren, Regenurlaub machen, noch aber ist der Regen Stiefkind, verblasst im Glanz des marmorstrahlenden Bruders. Beide haben sie längst ihre Unschuld verloren, Schwester und Bruder, Regen und Schnee, erwachsene Kinder, denen man nichts mehr vorspielen kann, nicht wie damals, als ich noch Briefe schrieb an den Schnee, sie ins Fenster stellte, kurz nachdem sich das mit den Christkindbriefen aufgehört hatte, muss das gewesen sein. Komm, schrieb ich, nein, höflicher, kommen Sie, bitte kommen Sie, schrieb ich an den Schnee. Rückblickend selbst das schon ein Anzeichen verloren gehender Unschuld, der Schnee kam nicht mehr von selbst, durfte nicht mehr von selbst kommen, sein Werden wurde beobachtet, seine Ankunft herbeianalysiert.
Es begann mit von Fenster zu Fenster geschlichenen Schritten, als könnten aus den Tropfen, die am Badezimmerfenster beflissen herunterrannen, auf der anderen Seite des Hauses, am Wohnzimmerfenster, bereits in wunderbarer Trägheit ambulierende Flocken geworden seien. Es begann mit Blicken auf das Thermometer, das am Fenster im Vorzimmer angebracht war, mit der Genugtuung, wenn die blaue Säule nur den Nullpunkt erreichte, mit der Enttäuschung, wenn trotz des kalten Windhauchs, der am Morgen durch das geöffnete Fenster ins Zimmer geströmt war, fünf oder sieben oder zwölf Grad angezeigt wurden. Es begann mit der sich öffnenden Welt des Internets, dem Aufrufen immer neuer Wettervorhersageseiten, der Hoffnung, die man in 5-, in 7-, in 9-Tages-Prognosen setzte.
Es begann mit Erkenntnissen, die sich einstellten. Mit einer schrittweisen Entblätterung. Mit einer verdunkelnden Einengung. Mit einer unmerklich wachsenden Schmälerung.
Die Erwachsenen, die von früheren, von richtigen Wintern sprachen und es wie einen Vorwurf klingen ließen, dass man selbst so etwas nicht erlebt hatte. Nicht erleben würde.
Die noch nicht ahnten, welche Vorwürfe ihnen in ein paar Jahren entgegengeschmettert werden würden.
Noch nicht.
Noch musste erst das Benutzen einer Suchmaschine geübt, das Verfolgen eines Interesses erprobt, mussten erst Informationen nach und nach verstanden, akzeptiert, zu widerlegen versucht, akzeptiert, zu widerlegen versucht, akzeptiert werden.
Und der Schnee, der währenddessen niemals den Status des viel zu schönen Jünglings verlor, der durch seine zutage tretende Vergänglichkeit nur an Anmut gewann, an verlockender Zartheit, an beeindruckender Brutalität. Der immer unzuverlässiger kam, sich immer rarer machte, der längst sein eigenes Leben führte, nur mehr für kurze Wochenenden in die alte Heimat zurückkehrte, so tat, als wäre nichts gewesen.
Der die Blümelein nicht mehr zudeckte, und auch nicht das vergessene Sandspielzeug, die gestürzte Gießkanne, der keine Winterruhe mehr gönnte, kein weißes Schimmern in den lang gewordenen Nächten.
Ich trennte mich von ihm. Als wäre ich es, die die Macht dazu hätte. Ich ging dorthin, wo es ihn nicht braucht, wo sein Zauber lasch niedersinkt, wo er keine Baumwipfel bemalen und keine Hügel überziehen kann. Ich las weiter, ich googelte weiter, ich verbot mir, um ihn zu weinen, angesichts dessen, was es Schlimmeres gab.
Verbrannte Ernten zerflossene Felder
die Verzweiflung jener die sich an Bäume ketteten
jener die aufbrachen jener die niemals ankamen ertrunken erstickt jedenfalls aber gestorben.
Ich gab der Sehnsucht nach. Setzte mich in Züge, die ihr Tempo drosselten, je enger die Felswände heranrückten, links und rechts vor den Fenstern, bemühte mich, kühl zu bleiben, vorbereitet zu sein auf den Moment, wenn sich die Wände wieder öffneten, den Blick freigaben auf die Weite, die begrenzte Weite, die von schneeweißen Gipfeln begrenzte Weite vor mir. Spürte, wie eine diffuse Scham mir den Nacken versteifte. Dass ich ihn beschützen zu müssen, zu können geglaubt hatte, den so viel Größeren, viel Mächtigeren, der mich unter sich zermalmen, mir das Wasser zum Leben geben oder verweigern, mir Strom und Wärme und Straßen versperren konnte.
Ein kurzer Moment, der nicht bleiben würde in meiner Erinnerung, der verschwinden würde unter anderen Bildern, gezähmteren, glattgepressten Schipisten, brüllenden Schneekanonen, weißen Bändern, eingezwängt zwischen braungefleckten Flanken. Mit beschämter Erleichterung erreichte ich wieder urbane Bahnhöfe, umfangen von tröstlichem Grau.
Und dann doch immer noch. Mein Blick, vom Bildschirm weg nach links gezogen, zum Bürofenster, zu breiten, weißen, weichen Flocken, die davor fallen, selbst aus weißen Wolken kommend. Der sanfte Ruck, der durch mich geht, eine Erhebung, Sinne und Stimmung und Mundwinkel, die synchron nach oben zeigen.
Ich erwache, der Balkon vor meinem Fenster weißgeländert. Ich finde die Baumwipfel, ich finde die nun nicht mehr nackten Äste, ich finde auch Hügel, ich gehe ihn besuchen, und in mir kein Groll, in mir nur Glück, in mir eine Dankbarkeit, in mir die alte Verehrung.
In mir immer noch kein Ärger über nasse Stirnen nasse Haare nasse Zehen.
Immer noch die Ehrfurcht die Bezauberung das Glitzern die Verzückung.
Immer noch verfallen, den Flocken, den verfallenden.