Hoamat

Sie geht leichtfüßigen Schrittes über das unregelmäßige Straßenpflaster, die größten Zwischenräume meidend, den Blick nach unten gerichtet, die Arme ziellos vor sich hin schlenkernd, auf den Markt zu, wo Herbstgemüse angeboten wird, das sich aus der kargen Erde Irlands hervorgekämpft hat. Gedrungene Karotten, Pastinaken und Kartoffeln, denen man die Anstrengungen des Wachsens ansieht. Daneben die Austern, die sich unter dem Zitronensaft krümmen und fremd auf ihrer Zunge schmecken. Die Menschen mit geröteten, lachenden Gesichtern, im Singsang kommunizierend.

Sie geht mit gesenktem Blick zwischen ihnen durch. Ein Kind spielt am Fischstand, lässt den Rachen eines Fischkopfes auf- und zuschnappen und freut sich über den Schrecken der Besucher. Ein Stück Scholle, bitte. Ihr Blick bleibt an einem Lederarmband hängen, breit, männlich, mit keltischen Mustern graviert. Daneben ein Ring, ein Herz zwischen zwei Händen. Claddagh, wie sie hier sagen. Später am Abend, mit Freunden im Pub, saugt sie das Stampfen tanzender Beine, den Schweiß im Gedränge und den herb-süßen Geschmack des Alkohols auf. Errötet, aufgedreht, vor zwölf nach Hause. Die Beine tragen sie automatisch, links rechts links rechts auf der ungewohnten Straßenseite. Graue Fassaden, spärlich beleuchtet, die Mauer am Straßenrand, aus der Moos wächst. Es regnet ja so gut wie immer.

Sie geht und geht, am Prado entlang, der grün bepflanzt ist, und wo der Tajibo lila blüht, der Schatten in der Nachmittagshitze spendet. In den Palmen hat sich eine Gruppe blauer Papageien versammelt, von denen sicher einige ihrem menschlichen Zuhause entflohen sind. Die Vögel verzehren die Datteln und zielen mit den Kernen auf die Passanten, und wenn du Pech hast, trifft dich ein runder Dattelkern direkt am Haupt. Ein Haus, aus Lehm zu Ehren des Präsidenten gebaut, mitten in Cochabamba. An ihrer Seite zwei lachende Augen unter schwarzem Haar und ein samtpfotiger Begleiter.

Es ist erst sechs Uhr abends und nicht Mitternacht, als sie die Tür zu ihrem Einzimmerapartment aufschließt. Die Feuchtigkeit, der Nebel, das Moos, die ins Zimmer kriechen. Das Meer, die Bucht von Galway, macht alles erträglicher. „Der Wind reinigt die Gedanken“, sagt die Vermieterin in ihrem Singsang. Am Ende der Strandpromenade, weit nach dem Campingplatz, liegt eine Insel, die bei Ebbe zu Fuß erreichbar ist. Man passiert den Sprungturm mit dem Warnschild: Nur bei Flut benützen! Die Stadt rückt in die Ferne. Die Türme der Kathedrale und der Leuchtturm sind noch auszumachen. Sie genießt dieses Satellitendasein. Der Wind weht von Westen, und manchmal kommen die Überbleibsel eines Orkans an. Da pfeift es ums Haus und der schwächelnde Baum im Vorgarten droht zu taumeln. Sie denkt an den Sandsturm in Villa Pagador, der sie und ihren Begleiter von oben bis unten mit feinem Staub bedeckte. Nur raus hier. Immer der gleiche Gedanke, die gleiche Logik:

Nur weg von hier.

Ihr Blick wandert von den moosbedeckten Steinen Galways zu den Hohen Tauern. Unvergleichlich schön. Die Gletscher, die Almen, der Tauernwind, der Kopfschmerzen und schlechte Laune verursacht. Sie geht über das Kopfsteinpflaster aus hellgrauem Granit, die größten Unebenheiten meidend, den Blick gesenkt. Einen Schritt vor den anderen, automatisch, über die Rosengasse zum Johannesplatz. Der Dialekt vertraut, die Menschen großtuerisch und rau. Stadtlerisch. Ist das auch der Effekt des Tauernwinds? Auf dem Weg in ihr Dorf gleitet ihr Blick über die Bergrücken, die grün und grau und rau, aber ewig geduldig sind. Sie umarmt einen Baum, spürt die unebene Rinde, der Baum hat Wurzeln – und sie nicht.

Der Tauernwind fegt sie fort und bringt die Vorahnung auf Neues, Großes. Die Weite suchen, am Meer, im Urwald, in den Anden. Sie finden und doch nicht sich finden. Der Tauernwind wird zum Sandsturm in Villa Pagador, und der Staubwirbel verwandelt sich in den Westwind der Galway Bay. Der einen wegfegt, wenn man nicht Wurzeln wie ein Baum hat. Sie taumelt. Sie fällt, mit dem Gesicht voran, auf das Straßenpflaster einer neuen Stadt. Sie ist gekrümmt, gelähmt, bezwungen. Der Tauernwind nimmt sie mit und flüstert ihr zu: „Ich heile dich.“ Und meint doch: „Gib endlich auf! Gib auf dein unstetes Dasein, dein Du-sein.“ Er nistet sich ein in ihren Hirnwindungen. „So hat das zu sein und nicht anders.“

Und nun versteht sie es auch: Weder Tauernwind noch Sandsturm noch Westwind mögen das Fremde. Sie wollen es wegfegen, bevor es Wurzeln schlagen kann. Und da sieht sie: die zwei liebenden Augen unter schwarzem Haar. Wollen wir gemeinsam fremd sein? Ineinander Wurzeln schlagen und den Wind besiegen? Denn der Gegenwind lässt sich überlisten. Sandsturm der Hohen Tauern, von Westen wehend als Überbleibsel eines Orkans. Mein Körper hebt und senkt sich in deinem Takt, denn trotz allem bist du:

Meine Hoamat.

Sarah Kollnig
Sarah Kollnig

Forscherin, Lektorin, Schreibende

Ich schreibe über Persönliches und Gesellschaftliches, über Schwieriges und Leichtes. Ich forsche und lehre über Nachhaltigkeit und Gesellschaft.

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